Virtuelle Räume der Begegnung

Virtuelle Räume der Begegnung
Virtuelle Räume der Begegnung | Bildquelle: Unsplash

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Kultur aus der Tiefe: Tanztheater und Clubkultur zwischen Möglichkeiten und Prekaritäten. Im Zuge der, durch die Covid-19 Pandemie herbeigeführten Kontaktbeschränkungen und Veranstaltungsverbote wurden große Teile des Kultursektors vor existentielle Herausforderungen gestellt. Der Autor der Studie, Nico Berthold, setzt sich exemplarisch anhand des »objekt klein a« (OKA), einem Dresdner Club im alternativen Milieu, und im Austausch mit Wiete Sommer, mit diesen Herausforderungen und möglichen Bewältigungsstrategien auseinander. Ursprünglich ist diese Studie gemeinsam mit fünf weiteren »Geschichten des Gelingens« in einem Sammelband bei Metropolis erschienen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sieben Artikel unterteilt. Bei diesem Artikel handelt es sich um den ersten von sieben Teilen. Unterhalb des Artikels wird auf die weiteren Teile verwiesen. 


Möglichkeitsräume eröffnen

Über die Umnutzung in eher konventionellen Formaten hinaus wurden auch grundlegend neue Wege in der digitalen Versorgung mit Kunst und Kultur angedacht, erprobt und realisiert:

»Und daher ist dann zum Beispiel auch die Idee entstanden, dass Josh den virtuellen Raum sich fördern lassen hat über den ›Fonds Soziokultur‹. Und dieser virtuelle Raum ist jetzt ein Ort der Begegnung, an dem sich die Personen treffen können. […] Es werden Sets aufgenommen, die werden dann über den Screen abgespielt und die Smileys können sich gegenseitig angucken und kommunizieren. Das ist so eine erste Möglichkeit, um einfach wieder den Club in das Gedächtnis der Leute zu rufen.«

(Interview Sommer)

Ausgehend von den erforderlichen digitaltechnischen Kompetenzen war es seitdem möglich, virtuell durch die Räume des OKA zu spazieren, Musik zu hören und sich mit anderen Gästen zu unterhalten (Geiger 2020). Genutzt werden sollte der Raum zudem für die virtuelle Kunst-Ausstellung: »Aktuell hat der Club auch eine Ausschreibung für Künstlerinnen und Künstler und die können da Werke einreichen, die dann in einer virtuellen Ausstellung präsentiert werden« (Interview Sommer). Eine Kooperation mit Vertreter*innen der etablierten Kulturbranche wurde ebenfalls angestrebt, so sollten auch digitale Objekte der staatlichen Kunstsammlungen Dresdens dort ausgestellt werden. Der Austausch mit neuen Kooperationspartner*innen führte schließlich zu bislang unbekannten Synergien: »Was es noch zu sagen gibt: Es gibt so eine Kooperation mit den sächsischen Kunstsammlungen, dass man da die DJs auftreten lässt« (ebd.). Auch über die Grenzen des eigenen Netzwerkes hinweg zu kommunizieren und zu kooperieren, verweist auf entscheidende Fähigkeiten und Bereitschaften für die Eröffnung von neuen Möglichkeitsräumen. Sich selbst bei Anderen ins Spiel bringen zu können, ist eine Befähigung, die mehr ist als reines Netzwerken. Es geht um die Visionskraft, den eigenen Sinn auf einem bislang unbekannten Weg zu realisieren.

Generationsgrenzen überwinden

Die Grenzen der eigenen Blase und Generation zu überschreiten, setzt voraus, sie als solche wahrnehmen und erforderlichenfalls problematisieren sowie schlussendlich neugestalten zu können. Für diesen neuen Blick auf das eigene Tun, der mehr Teilhabe in Bezug auf das Geschäftsmodell ermöglichen sollte, wurden grundlegende Reflexionsfähigkeiten erforderlich: »Was heißt das eigentlich, in einen Club zu gehen, tanzen zu gehen? Und gibt es vielleicht auch alte Menschen, die gerne in Clubs gehen?« (Interview Sommer). Mit dem bereits vor der Pandemie etablierten Kids Club, zu dem an Sonntagen Eltern mit ihren Kindern in den Club kommen konnten, wurde »eben auch ganz viel dafür getan, dass dieser Club auch generationsübergreifend genutzt werden kann« (ebd.). So konnte damit ein Raum geschaffen werden, in dem es auch Eltern mit jungen Kindern wieder ermöglicht wurde, an Kulturveranstaltungen teilzuhaben. Damit reagierten sie auf ein immenses und häufig übersehenes strukturelles Problem im Kultursektor: Eltern werden unter Umständen von einem auf den anderen Tag aus dem kulturellen Leben exkludiert, sobald ihr Kind zur Welt kommt. Sie verlieren so wertvolle Möglichkeiten der Zerstreuung und der sozialen Verbindung, die in der Elternschaft ohnehin tendenziell Mangelware sind. Die Unternehmung hat dies erkannt und auf das Problem reagiert. Neben den Eltern kamen auch die jungen Gäste so in den Genuss von Musik, Tanz, Spiel, Spaß, Kuchen und Saft auf dem großen Abenteuerspielplatz des OKA

Stamina – ein Hybrides Kunstwerk

Stamina ist das persönliche Pandemie-Projekt von Wiete Sommer. Es war angetrieben von der Beobachtung, dass es in Dresden einen Mangel an künstlerischen Ausdrucksformen gibt, die sie persönlich in der Kulturszene wertschätzt:

»Und gleichzeitig möchte ich auch in die Clubkultur mehr Theater wieder integrieren, weil ich eben merke, dass es in Dresden einfach nicht das Theater gibt, das ich mir wünsche oder das ich zum Beispiel auf der at.tension auch erlebt habe.«

(Interview Sommer)

Gesellschaftliche Entwicklungen wahrnehmen und an begründeten Maßstäben beurteilen sowie tatkräftige Konsequenzen für das eigene Handeln daraus ableiten zu können, versetzten sie schließlich in die Lage, trotz Einschränkungen durch die Pandemie ihre Ideen im Kollektiv mit anderen Künstler*innen ihres Umfeldes zu entwickeln:

»Durch diese Corona-Pandemie hatte ich mir auch überlegt: Wie kann man diesen Club für Tanztheater nutzen? Wir hatten uns dann überlegt: Wie können die Menschen sich ein Tanztheater ansehen, ohne dass man große Räumlichkeiten hat? […] Und ja, es fing alles damit an, dass ich gedacht habe: Wir müssen da was machen. Wir müssen unbedingt was machen, weil: dieser Laden steht leer und es passiert einfach nichts. Und gerade jetzt, wo keine Party gemacht wird, brauchen wir irgendwas, was uns an unsere Clubnächte erinnert. Der safe space fehlt.«

(ebd.)

Der Drang, sich für die Beseitigung eines gesellschaftlichen Problems verantwortlich zu fühlen, aktiv werden zu müssen, fiel zusammen mit einem freistehenden Raum und Künstler*innen ohne Projekte. Gemeinsam bildeten sie die kreative Basis für diese Unternehmung. Obwohl für die Produktion kaum finanzielle Ressourcen zur Verfügung standen und den ehrenamtlichen Akteur*innen nur eine geringe Aufwandspauschale von 80 Euro gezahlt werden konnte, wurde das Projekt realisiert. Den Wert der gemeinsamen Arbeit, orientiert an einem gemeinsamen Sinn, fanden sie in anderen Faktoren als Geld:

»Das hat mir auch nochmal gezeigt, was es überhaupt heißt, im Club-Kontext zu arbeiten, und dass Menschen einfach Lust haben, für diesen Club zu arbeiten, weil die eben auch diese Werte von dieser Einrichtung kennen und weil es dabei eben nicht um ein großes Gehalt geht. […] Und ich habe eben auch den Mehrwert gesehen, die Menschen zusammen zu holen. Und gerade viele hatten auch einfach keine Arbeit und wollten aber arbeiten, wollten was machen. Gerade auch die Tänzer, wenn die nicht dauerhaft sich pflegen und um sich kümmern und keinen Anreiz haben zu arbeiten, das geht ganz schnell, dass die einfach nicht mehr arbeiten können, weil die nicht im Training bleiben.«

(ebd.)

In kollektiv-künstlerischer Energie entstand »ein Mix aus Ausstellungen, Performance und Modenschau« (ebd.), in dem die verschiedenen Kompetenzen der Beteiligten von Wiete Sommer und dem zweiten Projektleiter, dem Tänzer Charles Washington symbiotisch zusammengeführt wurden. So vereinten sie um sich ein Team von Szenograph*innen, Tänzer*innen, Choreograph*innen, Modedesigner*innen, Videokünstler*innen, Fotograf*innen, Theater- und Performancekünstler*innen sowie Licht- wie Tontechniker*innen, die in gemeinsamer Arbeit das hybride Format ausarbeiteten:

»Stamina ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit diffusen Zuständen. Wie sieht die Zukunft des Clubbings angesichts des Gebots sozialer Distanzierung aus? Auf welche Weise können wir Nähe, dieses verlorene Attribut des Clubbings wiederfinden? Was macht es mit der Gesellschaft, wenn Tanz als Ausdrucksform für Gefühle, nonverbale Kommunikation und Interaktion, als solcher nicht mehr stattfinden kann?«

(OKA Homepage 2020)

In ihrem Konzept versuchten sie, darstellende Kunst in Form einer Ausstellung zu realisieren. Über fünf Räume verteilt entstand so ein experimentelles Kunstwerk, das sich mit Fragen der Gegenwart auseinandersetzt, was zur Voraussetzung hat, diese erkennen und formulieren sowie einen Standpunkt in Bezug auf sie einnehmen zu können.


Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Kultur aus der Tiefe: Tanztheater und Clubkultur zwischen Möglichkeiten und Prekaritäten. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sieben Artikel unterteilt. Hier findest du alle Teile im Überblick:

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