Musikunternehmungen im Ringen mit der Krise

Musikunternehmungen im Ringen mit der Krise
Musikunternehmungen im Ringen mit der Krise | Bildquelle: Unsplash

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Die Neuerfindung des Kultursektors: Wie Musikunternehmungen zu Solidarität und Kooperation befähigen. Es gibt wohl keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von der Covid-19 Pandemie betroffen war. Jedoch traf die Pandemie nicht alle gleichermaßen. Als besonders Krisenanfällig stellte sich der Kultursektor heraus, was auf seine schon vor der Pandemie fragile Strukturen und die Abhängigkeit von häufig prekär beschäftigten Solo-Selbstständigen und Kleinunternehmer*innen zurückgeführt werden kann. Dass auch unter diesen erschwerten Bedingungen Krisenbewältigung gelingen kann zeigt Jakob Fraisse in seiner Studie, anhand der Unternehmungen jazzahead! und JazzLab, auf. Ursprünglich ist diese Studie gemeinsam mit fünf weiteren »Geschichten des Gelingens« in einem Sammelband bei Metropolis erschienen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sechs Artikel unterteilt. Bei diesem Artikel handelt es sich um den zweiten von sechs Teilen. Unterhalb es Artikels wird auf die weiteren Teile verwiesen.


Gemeinsam vom Eis improvisiert 

Die Geschichten des Gelingens, um die es hier geht, werde ich nun entlang der vier Dimensionen (siehe Hochmann in diesem Band) Kennen, Können, Dürfen und Wollen darlegen und fortlaufend theoretisch reflektieren sowie einordnen.

Eine bedrohliche Situation

Mit der ersten Kategorie des Kennens im Kontext neuer Praktiken erfasse ich, welche Bedeutung die Kulturakteur*innen sich selbst, ihrer eigenen Institution, dem Feld und seinen sozialen Dynamiken und Phänomenen inmitten der Pandemie zuschreiben. 

Wahrnehmungsmuster: Beide beforschten Unternehmungen nehmen die Krise als eine existenzielle Bedrohung der eigenen Institution und anderer, für sie wichtiger Feldteilnehmer*innen wahr. Die Interviewpartner Phillip Püschel und Lasse Grunewald nehmen ihr Kollektiv als ein umfänglich von der COVID- 19-Pandemie betroffenen Kulturakteur wahr, der in seiner Haupttätigkeiten erheblich eingeschränkt wird. Sollten sie trotz der Auflagen weiter Veranstaltungen organisieren, könnten die Mitglieder des Kollektivs »die Verantwortung, dass da was passiert, nicht übernehmen« (Interview JazzLab). Konzerte zu geben und zu veranstalten, ist im Kontext der COVID-19-Pandemie aus ihrer Sicht nicht möglich. Da die Mitglieder des Kollektivs verschiedenen Formen der Beschäftigung nachgehen, sind sie von der Situation auch unterschiedlich stark betroffen. Das Spektrum der Betroffenheit variiert zwischen solo-selbstständigen Musiker*innen und Personen in hybriden Arbeitsverhältnissen, die über ein Einkommen aus anderen Quellen verfügen. 

»Aber es gibt halt auch Leute, die einfach kein Geld in der Zeit verdienen können, dürfen, und denen geht es dementsprechend nicht so gut.«

(Interview JazzLab)

Durch seine netzwerkartige Struktur wird das Kollektiv trotz oder gerade wegen dieser Diversität als relativ krisenfeste Gemeinschaft wahrgenommen.

»Bei uns geht es immer darum, dass einer nach vorne tritt, […] Verantwortung [übernimmt], man gibt so einen Impuls, und dann folgen die anderen.«

(Interview JazzLab)

Zu einer Gemeinschaft wird das Kollektiv dadurch, dass die Mitglieder sich miteinander austauschen und sich gegenseitig unterstützen. Fördergelder bieten in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Sicherheit, welche solidarisch und bedarfsorientiert auf die Mitglieder verteilt wird. Weitere Sicherheit entsteht durch eine solidarische Verteilung von Risiken, indem Krisenfestigkeit ermöglicht wird durch ehrenamtliche Arbeit derjenigen, die durch ihre Teilzeitbeschäftigungen eine »finanzielle Absicherung« (Interview JazzLab) haben. 

Es ist die hybride Konstitution, die Uneindeutigkeit, welche die Wahrnehmungsmuster dominiert. So zeichnet auch die Interviewpartnerin Katharina Busch von der Musikmesse jazzahead! das Bild einer Kulturakteurin, die einerseits öffentlich und gemeinwohlorientiert, andererseits privat und wirtschaftlich handelt. Neben der Absicht, die eigene Institution finanziell abzusichern, ermöglicht und erhält die Messe ein Netzwerk von Kulturakteur*innen und übernimmt für dieses Verantwortung, indem sie in einer Zeit, in der Großveranstaltungen nicht stattfinden können, neue Orte und Formate der Begegnung schafft und so das Netzwerk am Leben erhält.

»Und gleichzeitig hoffe ich natürlich, dass wir trotzdem diesem Anspruch gerecht werden können, den wir als Netzwerkveranstaltung haben.«

(Interview jazzahead!)

Auch sie nimmt die Corona-Krise als eine existenzielle Bedrohung für die eigene Institution wahr. Dadurch, dass die Großveranstaltung, die ihr Geschäftsmodell im Kern ausmacht, zwei Mal in Folge nicht wie üblich stattfinden konnte, erlitt das Unternehmen einen offensichtlich massiven finanziellen Schaden. Wichtig ist es gerade deswegen, »im Gespräch […] und weiterhin sichtbar« (Interview jazzahead!) zu bleiben. Denn neben den unmittelbaren Einnahmen fallen mit der einzigen Veranstaltung, welche die Unternehmung innerhalb eines Jahres organisiert, strategisch bedeutsame über das Jahr verteilte Anlässe weg, den Kontakt mit Kooperationspartner*innen und Teilnehmer*innen der Veranstaltung zu pflegen. Das Netzwerk wird so auch auf mittlerer Frist geschädigt, was die Institution besonders krisenanfällig macht. Für ökonomische und institutionelle Sicherheit in der Krise sorgen die indirekte Anbindung an die Stadtverwaltung (die jazzahead! ist als Teil der Messe Bremen ein Tochterunternehmen der Stadt Bremen) und die institutionelle Förderung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

»Wir stehen im Vergleich zu anderen Kulturbetrieben, die sich über den laufenden Spielbetrieb finanzieren, Konzertbetrieb finanzieren, gut da.«

(Interview jazzahead!)

Wiewohl also beide Unternehmungen trotz unterschiedlicher Ausgangsbedingungen die Corona-Krise als eine ernstzunehmende Bedrohung wahrnehmen, verweist diese auf eine tieferliegende Fragilität, die in diesem Ausmaß durch die COVID-19-Pandemie nur offengelegt wurde. Sie ist nicht akut, sondern historisch (Zimmermann 2020, S. 9). Weder das neue Selbstbewusstsein der Kulturakteur*innen seit den 1970er-Jahren noch eine präsenter gewordene Bundeskulturpolitik seit den 1990er-Jahren hat zu nennenswert mehr sozialer Sicherheit beigetragen (ebd.). In der Folge ist die Bedrohung des Kultursektors durch die Corona- Pandemie weitestgehend selbstgemacht; »gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen wurden in der Vergangenheit so gestaltet, dass die Gesellschaft besonders anfällig für eine Krise ist« (Brosda 2020a, S. 9). Die soziale Absicherung, »insbesondere die Absicherung jener Künstlerinnen und Kreativen, die durch die Beschränkungen zwar einkommenslos, aber eben keinesfalls beschäftigungslos waren, erwies sich als schwierig« (ebd.).

»Hier hat sich gerächt, dass es uns in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht gelungen ist, unsere sozialen Sicherungssysteme so systematisch zu erweitern, dass sie allen Beschäftigten im Land, unabhängig vom Status, offenstehen.«

(ebd.)

Besonders problematische Entwicklungen des Feldes sind die sogenannte Liberalisierung des Arbeitsmarkts und die Herausbildung einer neuen kreativen Klasse (Nachtwey 2016, S. 174): So haben Kulturakteur*innen einen hohen Bildungsstandard, einen gehobenen sozialen Hintergrund und dennoch deutlich weniger Einkommen als andere Erwerbstätige mit vergleichbaren biografischen Merkmalen (ebd., S. 153 ff.). Der Umbau des Kultursystems, der mit der Übertragung ökonomischer Paradigmen wie Konkurrenz, Wettbewerb und Zahlungsfähigkeit auf den Kulturbereich und einer verstärkt marktförmigen Organisation von Kultur einherging (Höhne und Glesner 2018), führte zu einer prekären und durch Selbstausbeutung geprägten Arbeits- und Lebensrealität vieler Kunst- und Kulturschaffenden (Paulus 2018).

Deutungsmuster: Vor diesem Hintergrund wird die Deutung der COVID-19-Pandemie verständlich, die nicht auf virologische oder epidemiologische Interpretationen verweist. Im Kontext dominanter Feldlogiken und gesellschaftlicher Dynamiken deuten die Musikunternehmungen die Pandemie als gesellschaftliche Krise der Versorgung mit Musik. Während sie das eigene Feld als Praxis interpretierten, in der kulturellen Inhalten und Formaten ein besonders hoher Wert zugeschrieben wird, dominiert gesellschaftlich ein Mangel an Wertschätzung von Kultur. Er drückt sich aus in der Delegitimierung und Dethematisierung in Zeiten der Pandemie, was die Krisenanfälligkeit des Kultursektors weiter verschärft.

»[Es] gibt [Umstände], die den Kulturschaffenden einfach suggerieren, dass Kultur minderwertig sei, gegenüber beispielsweise Konsum in Einkaufszentren.«

(Interview JazzLab)

Gesellschaftlich tritt implizit eine politische Logik hervor, die verschiedene Wirtschaftsbereiche miteinander vergleicht und abhängig von ihrer monetären Wertschöpfung hierarchisiert (Brosda 2020b, S. 234). Dabei fällt die Zumutung unter den Tisch, die Kunst und Kultur auch einer kapitalistischen Gesellschaft bereitet:

»Wenn wir eine Kunst wollen, die Orientierungsfunktion und utopisches Potenzial für das Individuum und für die Gesellschaft bietet, dann müssen wir darauf verzichten, Kunst unter dem Paradigma der Nützlichkeit zu betrachten.«

(ebd.)

Ein »Diskurs über den Stellenwert von Kunst und Kultur« (ebd., S. 235) wurde (und wird hiermit performativ) zwar geführt. Im Zuge der Pandemie ist jedoch gerade die existenzbedrohende Situation von solo-selbstständigen Künstler*innen hinsichtlich ihrer sozialen Absicherung in der Regel ignoriert worden.

Innerhalb des Kulturbereichs selbst ist das anders. Aus Sicht der Betroffenen wird die Situation nicht wettbewerblich ausgenutzt, um andere Akteur*innen auszustechen. Stattdessen deutet Katharina Busch die Corona-Krise als Anlass für ein kooperatives und teilweise solidarisches Verhalten im Jazz-Musikbereich, aber auch in Bezug auf die jazzahead! selbst, wie es sich exemplarisch in besonderer Kulanz dokumentiert.

»Die haben alle ihr Geld wiederbekommen und wir haben ja auch auf einen Eigenanteil verzichtet. Obwohl es gar nicht in dem Moment nötig gewesen wäre.«

(Interview jazzahead!)

Für ein gewinnorientiertes Unternehmen ist das kooperative Verhalten heute ungewöhnlich. Dies hängt, so scheint es mir, mit der netzwerkartigen Struktur des Bereichs zusammen. Neben der bereitwilligen Erstattung der bereits gezahlten Teilnahmebeiträge und Standgebühren der registrierten Fachteilnehmer*innen (Veranstalter*innen, Musiker*innen, Medienvertreter*innen u. a.), hat die Messe ihre verschiedenen Kanäle (Homepage, Newsletter, Soziale Medien u. a.) bespielt und damit ihre große Reichweite in der internationalen Jazzlandschaft genutzt, um andere Institutionen zu unterstützen.

»Und im Frühjahr, Mai, Juni, haben wir dann viele Inhalte geteilt von Partnerinnen und Partnern nach Absprache.«

(Interview jazzahead!)

Solidarität ist ein Muster in der Deutung, auch für die Mitglieder des Kollektivs JazzLab. Sie fordern eine solidarische Orientierung, welche die Wertordnungen des Kultursektors akzeptiert und diesen unterstützt. Da sie sich als »Teil des Ganzen« (Interview JazzLab) und damit der Gemeinschaft verpflichtet fühlen, wollen sie diese solidarische Orientierung sowohl untereinander als auch innerhalb der Institution. 

Die Pandemie deuten sie als möglichen Ausgangspunkt für Entwicklungen, welche die dominante Wertordnung hinterfragen und kulturpolitische Akteur*innen als mächtigere Sprecher*innen positionieren. Dies erachten sie als eine zentrale Voraussetzung für eine zukunftsfähige Gestaltung des Kultursektors. Als Zukunftsdeutung markiert die Krise einen Ausgangspunkt für einen Transformationsprozess: »Ich glaube, dass sich super viel verändern wird« (Interview JazzLab). 

Diese Entwicklungen im Kultursektor zielen auf eine Hinwendung zu solidarischen Lebensformen. Damit ist nach Jaeggi (2014) ein »Bündel von sozialen Praktiken […] und Ordnungen sozialen Verhaltens« gemeint. Lebensformen umfassen »Einstellungen und habitualisierte Verhaltensweisen mit normativem Charakter, die die kollektive Lebensführung betreffen, obwohl sie weder streng kodifiziert noch institutionell verbindlich verfasst sind« (ebd., S. 77). Als Hinwendung zu solchen Formen des Lebens bedeutet die Neuerfindung des Kultursektors eine Abwendung von den Lebensformen der kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft. Die freie Gestaltung von kunst- und kulturschaffender Praxis wurde und wird durch kapitalistische Zwänge und die ihrer Organisationsformen verhindert. Statt dass Menschen »in Strukturen leben, die eher die Gemeinheit, das Desinteresse und das ökonomische Durchmogeln befördern« (ebd., S. 44), wird die Krise des Kultursektors als Erfordernis, aber auch als Möglichkeit gedeutet, grundsätzlich in ein neues Miteinander zu gelangen. Meine Interviewpartner*innen führten wiederholt an, dass die Krise ein Möglichkeitsfenster für Veränderung öffnet, da die Versorgung mit Musik kein Naturgesetz ist. Das gilt auch für Lebensformen allgemein: »Das sind Dinge, die die Menschen tun und die man auch anders tun könnte« (ebd., S. 45). Statt Egoismus und Altruismus zu verabsolutieren, geht es darum, sich als gesellschaftliches Wesen zu wissen und gemeinsam einzutreten für Werte, Prinzipien und Ziele, die als wichtig erachtet werden.

»Jetzt wird man mit der Nase draufgestoßen, dass man der Coronapandemie nur gemeinsam Herr werden kann. Es gibt hier gar keinen individuellen Ausweg, sondern nur einen, der in gemeinsamer Arbeit an gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen bestehen kann, in denen wir einander wechselseitig ein anständiges Leben ermöglichen.«

(ebd., S. 50)

Auf die »Herausforderung der Grundlagen unseres Lebensmodells« (Brosda 2020a, S. 22) wird in der Corona-Pandemie mit einer »bemerkenswerte[n] solidarischen Kraft« (ebd., S. 23) geantwortet. Inwieweit die Krise eine Wegscheide zwischen konkurrenzbasierter und solidarischer Gesellschaft ist, bleibt bis auf weiteres offen.

»Es wird eine der entscheidenden Aufgaben für die Zukunft sein, dieses Bewusstsein dafür, dass wir aufeinander bezogen sind und aufeinander achtgeben müssen, zu bewahren. Solidarität ist nicht nur eine Strategie des Überlebens in der Krise, sondern die Grundlage des Gemeinsinns unserer Gesellschaft.«

(ebd., S. 25)

Resümierend geht die COVID-19-Pandemie zwar mit unterschiedlichen Krisenerfahrungen und -wahrnehmungsweisen einher, schließlich sind beide Musikunternehmungen nicht gleichermaßen von ihr betroffen. Dennoch zeigt sich eine große Überschneidung in Bezug auf die Deutung der Krise: beide deuten die Krise als Gesellschaftskrise in der Versorgung mit Musik und beide akzentuieren, dass Kooperation in dieser prekären Situation hilfreicher ist, als verschiedene gesellschaftliche Bereiche zu bewerten, zu hierarchisieren oder gar gegeneinander auszuspielen. Die Akteur*innen machen sich ihre eigene Lebens- und Einkommenssituation bewusst, gleichzeitig versetzen sie sich in die Situation von anderen und für sie wichtigen Feldteilnehmer*innen hinein. Dieses empathische Einfühlungsvermögen führt zu der Erkenntnis, dass die verschiedenen Institutionen die Krise nur mit Hilfe von gegenseitiger Unterstützung überstehen können. Wichtige Fähigkeiten, die sich im Kontext der Krisenbearbeitung gezeigt haben, sind eine Sprachfähigkeit in Bezug auf Feldlogiken, Probleme wie Hoffnungen, aber auch das Reflektieren sozialer Konnektivität. Die Einordnung in gesellschaftliche Zusammenhänge, sich als politische Gebilde zu reflektieren und darauf bezogen zu handeln, verweist auf die Befähigung und die Bereitschaft zur Kooperation, auch in Situationen, die vormals durch Konkurrenz organisiert gewesen sind.


Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Die Neuerfindung des Kultursektors: Wie Musikunternehmungen zu Solidarität und Kooperation befähigen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sechs Artikel unterteilt. Hier findest du alle Teile im Überblick:

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