Das transformative Potenzial von »Wir packen’s an«

Das transformative Potenzial von »Wir packen’s an«
Das transformative Potenzial von »Wir packen’s an« | Bildquelle: Unspash

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Krise hoch 2?: Gestaltungs- und Beharrungskräfte humanitärer Geflüchtetenhilfe. Die Geflüchtetenhilfe befindet sich eigentlich schon seit geraumer Zeit in einer Dauerkrise. Mit Ausbruch der Covid-19 Pandemie spitzte sich ihre Situation nun noch weiter zu. Die Handlungsfähigkeit der humanitären Hilfsprojekte wurde aufgrund pandemiebedingten Einschränkungen stark beschnitten und die sowieso schon unmenschlichen Zustände in den Geflüchtetenlagern verschlechterten sich weiter. Gleichzeitig waren Narrative von Zusammenhalt und Solidarität im öffentlichen Diskurs so weit verbreitet wie lange nicht mehr. Marie Keune betrachtet in ihrer Studie, welchen Umgang die Geflüchtetenhilfe mit den Pandemiebedingungen gefunden hat und wie sie trotz der großen Einschränkungen handlungsfähig geblieben ist. Dies geschieht beispielhaft anhand des Vereins Wir packen’s an (WPA) und im Austausch mit dessen Gründer Andreas Steinert. Ursprünglich ist diese Studie gemeinsam mit fünf weiteren »Geschichten des Gelingens« in einem Sammelband bei Metropolis erschienen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in acht Artikel unterteilt. Bei diesem Artikel handelt es sich um den achten von acht Teilen. Unterhalb des Artikels wird auf die weiteren Teile verwiesen. 


Transformativhandeln

Die Geschichte des Gelingens von WPA beginnt mit dem Entstehen des Vereins. Aus nicht mehr als einer Idee wurde eine gemeinsame Kraft, die sich als kollektiver Wille zu einer Organisation verkettete. Gemeinsam mit Freund*innen und Verbündeten entstand eine Unternehmung mit über 100 Mitgliedern und noch weit mehr Unterstützer*innen. Gemeinsam konnten sie das Leid und die Not zahlreicher Menschen lindern. Diese Geschichte handelt von einem Verein, der innerhalb eines Jahres ein ganzes Lager mit Masken ausstattete, die medizinische Versorgung für Geflüchtete auf einer Insel erheblich verbesserte und noch so vieles mehr erreicht hat, was auf der Website des Vereins einsehbar ist (Wir packen’s an o. J.a). 

Der Trott des Gewohnten ist vielerorts eine Barriere zur Transformation der Gesellschaft. In Unternehmungen mit dynamic capabilities, wie der untersuchten, steckt gerade in diesen Gewohnheiten das transformative Potenzial:

  1. in der Art und Weise, die Welt, und alle Krisen in ihr, wahrzunehmen und zu deuten,
  2. in der Selbstverständlichkeit, mit welcher dynamischreagiert wird, dem engmaschig geknüpften Netzwerk, dem Wert der Toleranz und dem kreativen Weitblick,
  3. in der Motivation, das Leben leidender Menschen weniger schlimm zu machen, und 
  4. in der ehrlichen Selbstreflexivität.

Dieses transformative Potenzial ist als ein Potenzial weder Selbstverständlichkeit noch Selbstläufer. Seine Entfaltung hängt ab von den gesellschaftlichen Verhältnissen, aus denen es entsteht und auf welche es sich bezieht. Die Empathie- und Demokratiekrise steht einer freien Entfaltung dieses Vermögens noch immer entgegen. Obschon in der Vergangenheit Wege gefunden wurden, sich selbst gestaltungsfähig zu halten, bleibt für die Zukunft die Skepsis: »immer unter der Voraussetzung, dass die Politik uns das auch machen lässt« (Interview WPA). Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, will ich es in aller Klarheit formulieren: Diese Politik tötet.

»Insbesondere, wenn man in der Praxis eben auch das Elend gesehen hat, dass dich das dann nicht mehr loslässt und dass du da gar nicht anders kannst. Also wie gesagt, […] auf den Missionen damals bei Sea-Eye oder auch jetzt, als wir im Januar in Bosnien waren die 14 Tage – [wenn du] siehst wie die Leute da leben, das ist eben einfach, ja, das ist schon, das lässt dich halt irgendwie nicht so richtig los. Und dann versuchst du zumindest, in den Möglichkeiten, die du hast, das unter einen Hut zu bringen.«

(ebd.)

Die Krise der Demokratie, die sich im menschenverachtenden Umgang mit Flüchtenden und Geflüchteten dokumentiert, lässt sich auch auf Mikro- und Meso-Ebenen finden: Wenn zum Beispiel die Lagerhäuser der Partnerorganisationen in der Nähe der Geflüchtetenlager abgebrannt werden. Wenn spontan entstandene Zeltstädte immer wieder abgerissen werden, ohne ein Alternative zu bieten. Oder wenn in Deutschland Menschen bedroht werden, wenn sie Organisationen wie WPA helfen. 

Doch wo Schatten ist, da ist auch Licht. Der Krise der Empathie steht ein ansteigender Wärmestrom ermöglichender Akteur*innen gegenüber, die sich solidarisieren und unterstützen. Unternehmungen und Privatpersonen, die Hilfsgüter und Gelder spenden, Organisationen und engagierten Menschen, die beim Sortieren und Packen helfen, Kulturschaffende und Unterstützer*innen im Großen wie im Kleinen, die der humanitären Hilfe, sowie den dort tätigen Organisationen, mehr Aufmerksamkeit, Anerkennung und Wertschätzung verschaffen. Dieses Gemeinsame, diese Solidarität und diese Kooperationsbereitschaft katalysieren die Wirkung, die eine Idee, die eine Mission haben kann. 

An und mit der Krise lernen, das passiert bei dynamisch befähigten Unternehmungen wie WPA nicht erst durch eine Pandemie. Es ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, die von Beginn an jegliche Strukturen und Prozesse mitbestimmt. Die Krisenfestigkeit dynamisch lernender Organisationen belegt, dass die von den Mitgliedern gelebten Einstellungen und Praktiken nicht nur vermutlich zu einer stabileren Wirtschaft führen. Sie tun es tatsächlich. Mit der Herausarbeitung und Benennung dieser Fähigkeiten möchte ich all jenen Hoffnung schenken, die inmitten der vielen Krisen unserer Zeit einen Weg suchen. Es ist eine Einladung, um »unsere Welt neu denken« (Göpel 2020) zu lernen. Von Unternehmungen wie WPA können wir uns dazu inspirieren lassen. Denn:

»Die Situation bleibt natürlich bestehen. Uns ist allen bewusst was sich da abspielt. Wie es den Menschen geht, denen wir da versuchen irgendwie zu helfen. Und das ist die Energiequelle, da weiterzumachen.«

(Interview WPA)

»Nicht mehr aktiv zu sein, ist ja keine Variante.«

(ebd.)

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Krise hoch 2?: Gestaltungs- und Beharrungskräfte humanitärer Geflüchtetenhilfe. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sieben Artikel unterteilt. Hier findest du alle Teile im Überblick:

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